Zur Kenntnis extra: Unser Leben ist vorbei

1934 schrieb Cole Porter das Musical »Anything Goes«. Aus dem Titel wurde in den Jahrzehnten danach das zentrale Credo der westlichen Wohlstandsgesellschaften: Jede*r kann einfach alles tun und haben (insofern sie oder er es sich leisten kann). Aus nachvollziehbaren, aber trotzdem nicht guten Gründen fällt uns schwer zu begreifen: Damit ist jetzt Schluss!

Das meint explizit nicht die individuelle und gesellschaftliche Vielfalt, die seither erreicht wurde und die es unbedingt zu bewahren gilt – es geht um den rücksichtslos hedonistischen Konsum von Waren und Dienstleistungen, dem die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen schlicht egal ist. Spätestens in den 1980er Jahren wurde „Anything goes“ nämlich vom Motto einer kreativen, urbanen Avantgarde aus Kunst und Werbung sowie des immer weiter am Renditerad drehenden Kapitalismus‘ zum kulturellen Mainstream: Alles geht für alle, am besten jetzt und natürlich unbegrenzt. Erdbeeren im Winter und grüner Spargel aus Peru; am Wochenende nach Mallorca oder New York, in den Urlaub nach Bali oder Australien; die Autos immer größer, schwerer, schneller und die Klamotten immer öfter kaufen, tragen, wegwerfen – alles ist möglich, und alles musste auch sein. Der Neue-Deutsche-Welle-Hit »Ich geb‘ Gas, ich will Spaß« brachte dieses Lebensgefühl weiter Teile der sogenannten Ersten Welt auf den popkulturellen Punkt. Und an diesem Wesen sollte der Rest des Globus‘ bestenfalls gleich mit genesen oder wenigstens davon träumen.

Absurd: Wachstum als Dogma der Kultur

Diese Mentalität hat auch »die Kultur« erfasst und dominiert ihr Denken bis heute. Es folgt einer durch und durch kapitalistischen Wachstumslogik: Mehr Veröffentlichungen, mehr Konzerte, mehr Inszenierungen, mehr Premieren, mehr Künstler*innen, mehr Orte, mehr Räume, mehr Geld … stets begründet als angeblich unverzichtbare »Investition« in die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dass es um beide heute besser als oder auch bloß genauso gut stünde wie vor zwei, drei oder fünf Jahrzehnten, wird dabei niemand ernsthaft behaupten wollen. Der angebliche democratic return on cultural invest war und ist in Wahrheit nie mehr gewesen als gut getarnte Eigen-PR: Mehr Kultur ist immer gut – und zwar für die Kultur!

Während deren Angebot über die Jahrzehnte hinweg stetig ausgebaut wurde, geriet seine Finanzierung und vor allem die Bezahlung der allermeisten Schöpfer*innen – ob in Festanstellung, mit einem Honorarvertrag oder in geförderten Projekten – immer prekärer. Die Infrastruktur wurde ständig erweitert, ihr Betrieb und auch ihre Pflege aber nie auskömmlich finanziert; von ihrer Weiterentwicklung oder gar der lange absehbar nötigen Transformation zu Nachhaltigkeit, Digitalität und Diversität ganz zu schweigen. Dabei hätte es gerade in der wirtschaftlichen Boomphase ab 2010 nochmal ausreichend Gelegenheit dazu gegeben: Die Kulturetats von Bund, Ländern und Kommunen stiegen in dieser Zeit deutlich stärker als die Inflation. Doch anstatt endlich die strukturellen Defizite im Bestand zu beheben, wurden wieder nur mehr Orte geschaffen, mehr Projekte ins Leben gerufen und mehr Förderlinien eingerichtet.

Es gibt keine Ausreden: Die deutsche Kulturpolitik hat versagt

Heute muss man feststellen: Die deutsche Kulturpolitik hat in den vergangenen Jahrzehnten auf breiter Front versagt! Denn es wussten ja immer alle Verantwortlichen in Ministerien, Kulturdezernaten und Parlamenten beispielsweise, wie wenig nicht nur in freien Ensembles von Theater und Musik oder der breiten Masse Bildender Künstler*innen, Autor*innen und Übersetzer*innen verdient wurde, sondern sogar vom Gros der festangestellten Schauspieler*innen an öffentlichen(!) Bühnen – und sie haben nicht mal versucht, das zu ändern. Erst die drängende Not der Pandemie konnte beim Thema Mindestgagen für Freie Künstler*innen wie auch beim Einstiegsgehalt des Bühnentarifvertrages zumindest ein bisschen was bewegen.

Aber auch der jämmerliche Zustand zahlloser Gebäude mit kultureller Nutzung samt ihrer technischen Ausstattung war kein Geheimnis, von den Klimabilanzen mal ganz zu schweigen. Doch anstatt mit Klugheit und Weitsicht für resiliente Strukturen in der Zukunft zu sorgen, wurde in Zeiten besser gefüllter Kassen einfach immer weiter Neues beschlossen und oft zu teuer gebaut. Konsolidierung? De-Growth? Krisenvorsorge? Fehlanzeige!

Nun stehen wir – nach Corona, mitten in einem europäischen Krieg und der höchst dringlichen Nachhaltigkeitswende – vor dem Kollaps. Das Publikum bleibt weg, die Kunst ist ratlos, der Geldfluss auf absehbare Zeit versiegt. Der Staat muss sein pures Weiterfunktionieren auf Pump finanzieren, die Kommunen beschließen aktuell – wenn überhaupt – Rumpfhaushalte, weil niemand weiß, was nächstes Jahr noch in der Kasse sein wird.

Neubestimmung und Transformation: Was wollen wir?

Wir müssen uns endlich eingestehen, auch in der Kultur: Das Leben, das wir hierzulande kannten, ist jetzt wirklich vorbei – und wir brauchen schleunigst ein neues! Darin kann es zwangsläufig nur weniger kulturellen Output geben, wenn die Akteur*innen von den vorhandenen Geldern endlich fair bezahlt werden sollen. Neue Opernhäuser, Museen oder Konzertsäle verbieten sich von selbst, bis die schon existierenden verlässlich gepflegt, modernisiert und in jeder Hinsicht nachhaltig betrieben sind. Und darüber hinaus muss ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über Fragen beginnen, die der nicht nur wegen seines viel zu frühen Todes schmerzlich vermisste kulturpolitische Vordenker Bernd Wagner schon vor 20 Jahren gestellt hat: Welche Ziele soll die staatliche Förderung von Kultur im weiteren und Kunst im engeren Sinne eigentlich genau haben? Wo werden diese Ziele von wem festgelegt, und wer kontrolliert wie ihre Erreichung? Soll der Staat Kunst nur um Ihrer selbst Willen finanzieren – oder soll tatsächlich etwas ganz Anderes damit erreicht werden: Diskurs, gesellschaftlicher Zusammenhalt, ästhetischer Genuss, Unterhaltung mit Anspruch?

Dass »die Kultur« ein unverzichtbares Fundament der Demokratie sei, wie Claudia Roth seit ihrem Amtsantritt als Kulturstaatsministerin vor mehr als einem Jahr mantraartig vor sich selbst und uns allen herbetet, klingt in den Ohren des Soziotops zwar wie Musik, folgt aber faktisch nur dem Motto „Böse Menschen haben keine Lieder“; von jeher ein gefährlicher Glaube, der sich in Deutschland spätestens mit dem 30. Januar 1933 erledigt haben sollte.

Kulturpolitik statt Symbolpolitik

Kulturförderung durch die öffentliche Hand als Teil der Allgemeinen Daseinsvorsorge steht vor den größten strukturellen, konzeptionellen und im wahren Sinne des Wortes ideellen Herausforderungen seit dem Ende der NS-Diktatur. Auch die zuletzt neu gewählten Regierungen – im Bund, in Berlin, NRW und Schleswig-Holstein – bleiben die notwendigen Antworten weiter schuldig. Fünf Millionen Euro für ein Green Culture Desk aus dem Bundeshaushalt oder drei neue Beratungsstellen für Transformation zwischen Aachen und Bielefeld sind genau die Art von Symbolpolitik, die uns in die gegenwärtige Dauerkrise gebracht hat. Deshalb muss unser (gewohntes) Leben jetzt vorbei sein – in unserem ureigensten Interesse.

Dieser Text ist eine leicht veränderte Version meiner Kolumne kupores quartal in der aktuellen Ausgabe der „Kulturpolitischen Mitteilungen“; der Dank für das symbolische Bild hier im Blog geht an Holm Friebe.

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ZUR KENNTNIS extra: Ein Nicht-Skandal!

Gut 100 Millionen der insgesamt zwei Milliarden Euro „Neustart“-Hilfen für die Kultur hat die Bundesregierung in die Bildende Kunst verteilt. Etwa ein Drittel davon haben mehr als 230 Galerien und Kunsthändler erhalten, darunter auch solche, die wider Erwarten keine finanziellen Verluste während der Pandemie erlitten haben. Das hat eine Recherche von Deutschlandfunk Kultur ergeben. Skandalös ist daran: nichts.

Die Kolleg*innen beim Deutschlandfunk Kultur haben getan, was Journalist*innen tun sollten: Recherchiert, wer wofür staatliche Gelder erhält; in diesem Fall der Kultursektor während der Corona-Krise. Was sie bei genauerem Hinsehen nicht gefunden haben, ist etwas Verwerfliches: Der Staat hat in einer ein- und erstmaligen Situation und für seine Verhältnisse extrem schnell versucht, die kulturelle Infrastruktur des Landes zu sichern; die eigene staatliche wie auch die privatwirtschaftliche. Wegen der Dringlichkeit – auf die nicht zuletzt Kommentator*innen des Deutschlandfunks seit dem Frühjahr 2020 immer wieder in teils dramatischen Appellen hingewiesen haben – wurde auf Bedarfsprüfungen explizit verzichtet, weil das die Bewilligung der Mittel stark verzögert hätte. Unter anderem gab und gibt es bis heute für solche Prüfungen im Kulturbereich weder Regeln noch Fachkräfte. Es war im Übrigen (zeit)aufwändig genug – davon können alle Beteiligten sehr traurige Lieder singen -, die Hilfen konform zum Beihilferecht der EU und den formalen Vorgaben von Bundesverwaltungsamt und Bundesrechnungshof hinzukriegen. Dass in der Folge auch einzelne international tätige Top-Galerien und -Künstler*innen (in der Relation eher unbedeutende) meist fünfstellige Summen aus einem Milliardenprogramm erhalten haben, kann man im Nachhinein unnötig finden, ist aber nun wirklich kein Skandal.

Nicht zuletzt im Deutschlandfunk Kultur jedoch wurde in Berichten, Interviews und Kommentaren seit März 2020 immer wieder das Narrativ bedient, der Kultur sei in der Pandemie nicht wirklich geholfen worden. Dabei wurde nahezu durchgängig ignoriert, dass sie sogar der einzige (sic!) Bereich war, den der Bund mit einem eigenen Hilfsprogramm unterstützt hat; das hatten vor allem Gastronomie und Tourismus (und sogar die Autoindustrie) auch gewollt, aber nicht bekommen. Nun zwei Jahre später durch raunende Formulierungen wie „Kunst des Lobbyierens“ oder „der Verband scheint gleichberechtigter Verhandlungspartner der Politik zu sein“ den Eindruck zu erwecken, Teile der Kultur- und Kreativwirtschaft, also Künstler*innen und Kunsthändler*innen, hätten sich auf fragwürdige Weise an Steuergeldern bereichert, ist jedenfalls bemerkenswert. Die bislang bekannten Rechercheergebnisse legitimieren diesen Verdacht nicht. Mit anderen Worten: Der sprachliche Ausdruck passt zugunsten von Skandalisierung nicht zur Sachlage. Diese Methode kennt man in unserer Branche allerdings nur zu gut – von BILD und Springer.

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documenta16 – try again, fail better!

Am Wochenende ist die documenta15 nach 100 Tagen und noch länger währenden Debatten über sie zu Ende gegangen. Dazu lassen sich drei Dinge mit Sicherheit sagen: Es waren erstens vereinzelt eindeutig antisemitische Werke zu sehen, das hätte zweitens nicht passieren dürfen und drittens andere Reaktionen von Kurator*innen und Geschäftsführung verlangt. Alles darüber hinaus bewegt sich im Feld von Meinung, Meinungsmache und – wie stets auf heiklem politischem Terrain – Instrumentalisierung im Eigeninteresse.

Dabei gerieten (zu) viele öffentliche Äußerungen und Diskussionen unterkomplex, sowohl seitens der unmittelbar Beteiligten wie im medialen Diskurs. Das indonesische Kollektiv Ruangrupa und sein Lumbung-Prinzip waren überfordert von der Notwendigkeit politischer Verantwortung für die von ihnen kuratierte Schau, von den moralischen Grundsätzen im Veranstalterland und vielleicht auch von den Beschränkungen der eigenen Perspektive auf die Welt. Geschäftsführung und Aufsichtsrat der documenta scheiterten organisatorisch wie intellektuell an der Aufgabe, das gut Gemeinte auch gut zu machen, vor allem als Krisenmanagement gefragt war. Und „die Öffentlichkeit“, damit sind vor allem das Feuilleton und der kulturpolitische Diskurs gemeint, changierte irgendwo zwischen der Forderung „Sofort abbrechen“ und „Hätte man doch mehr geredet“, was der Komplexität des Gegenstandes zu eigentlich keiner Zeit gerecht wurde.

Das muss nicht immer nur an den Sprechenden gelegen haben, sondern ist auch der enormen Vielschichtigkeit des Themas geschuldet. Es beinhaltet mindestens drei höchst unterschiedliche Sachebenen: Den Antisemitismus als historisches wie zeitgenössisches Phänomen; den israelisch-palästinensischen bzw. in einem weiteren Sinne jüdisch-arabischen Nahost-Konflikt, der sich im globalen Zusammenhang zu einer jüdisch-muslimischen Konfrontation, wenn nicht Feindschaft entwickelt hat; und drittens die Kunstfreiheit. Jedes dieser Felder ist schon für sich derart voll Grauzonen und Fallstricke, dass man sich darin auch bei bestem Willen und größter Anstrengung mühelos verheddern kann. Ebenso unübersichtlich wie gefahrenreich wird der Diskurs erst recht da, wo sich diese Ebenen berühren oder gar miteinander verschränken.

Es gibt die eine Wahrheit nicht

Die Teilgebiete und ihre Interdependenzen an dieser Stelle auch nur annähernd auszuleuchten, ist ein Ding der Unmöglichkeit, von nachhaltiger Klärung ganz zu schweigen. Das ist viel klügeren Menschen als ich es bin im Laufe der vergangenen Jahrzehnte schon nicht gelungen, also versuche ich es – jedenfalls in diesem Rahmen – erst gar nicht.

Gleichwohl will ich die Komplexität selbst benennen und damit deutlich machen, dass jedenfalls vermeintlich eindeutige Haltungen oder „klare Kanten“ bei näherem Hinsehen weder möglich noch zielführend sind, so sehr wir uns das in unserer Sehnsucht nach Übersichtlichkeit und Ordnung auch wünschen mögen. Ob der Zentralrat der Juden, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung oder seine für Kultur zuständige Kollegin im Kanzleramt, ob der Deutsche Kulturrat (mit der etwas seltsamen Frage „Ist der Kulturbereich antisemitisch?“) oder die weltweit renommierte Künstlerin Hito Steyerl (die ihren documenta-Beitrag nach wenigen Tagen aus Protest zurückzog und entfernen ließ): Niemand verfügt in dieser Debatte über die eine Wahrheit, weil es sie schlicht nicht gibt. Sie kann auch nicht durch irgendeine Hintertür eingefordert werden.

Mendels Kunst des transparenten Sowohl-als-auch

Zumindest ein Akteur hat im Umgang mit der documenta15 gezeigt, wie es besser gehen könnte: Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Er hatte das indonesische Kurator*innen-Kollektiv weit vor der Eröffnung der Kasseler Ausstellung zunächst gegen pauschale Antisemitismus-Verdächtigungen in Schutz genommen, ohne dabei die Gefahr selbst zu leugnen. Als dann Werke einschlägigen Inhalts auftauchten, wurde er von der documenta-Geschäftsführung als Berater berufen – um anschließend nachweislich wochenlang nichts von den Verantwortlichen zu hören. Also legte er seine offizielle (Nicht-)Tätigkeit nieder und machte sich auf eigene Faust ein Bild von der Ausstellung als Ganzes. In der Folge identifizierte Mendel einerseits Exponate eindeutig antisemitischen Inhalts (eine einstellige Zahl mitunter mehrteiliger Beiträge unter mehr als 1000 Werken insgesamt) und benannte unmissverständlich die Fehler von Kurator*innen, Geschäftsleitung und Aufsichtsrat. Gleichzeitig kritisierte er unter anderem die scharfen Reaktionen des Zentralrats der Juden und betonte immer wieder, dass die documenta15 insgesamt keine antisemitische Kunstausstellung sei. Noch in der vergangenen Woche forderte er in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur alle Interessierten dazu auf, auch die letzten Tage der Schau zu nutzen, weil sich der Besuch lohne und die überwältigende Mehrheit der documenta-Künstler*innen durch die Vorfälle zu Unrecht in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Das sahen dem Vernehmen nach auch die mehr als 700.000 Besucher*innen so, die seit Anfang Juni nach Kassel gekommen sind.

Grundmuster Chauvinismus

Strukturell ist der Antisemitismus wie auch Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Ableismus usw. eine Form des übergeordneten Phänomens Chauvinismus: Es geht um konstruierte Über- bzw. Unterlegenheit eines vermeintlich „Eigenen“ gegenüber einem erkennbar „Anderen“ samt dessen Bedrohlichkeit und die zugehörige Erzählung, also eine kulturelle oder sogar vermeintlich wissenschaftliche Begründung dafür. Um die Wirkmacht solcher Narrative wirklich dauerhaft aufzubrechen, müssen die allen Menschen unterschiedslos gemeinsamen Rechte, Freiheiten und Eigenschaften betont und verteidigt werden, ohne dabei das offensichtlich Verschiedene zu leugnen, ob in äußerer Erscheinung oder Verhalten. Es geht um Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit zur intellektuellen wie emotionalen Resilienz, also um Besonnenheit und Differenzierung statt Rabulistik und Zuspitzung. Dabei sind vielgeäußerte Parolen wie jene, dass der Antisemitismus „keinen Platz in unserer Gesellschaft“ habe eher kontraproduktiv, auch weil sie schlicht die Realität leugnen: Nicht erst aus jüngsten Studien wissen wir, dass beinahe ein Viertel aller Deutschen der Ansicht ist, Jüd*innen hätten zuviel Macht in Wirtschaft und Finanzwesen; fast ein Fünftel stimmt dieser Aussage für Politik und Medien zu.

Ein Erbe des christlichen Abendlands

Antijüdische Haltungen sind in „der Gesellschaft“ weit verbreitet, wenn auch nicht mehrheitsfähig; ihre Existenz zu leugnen oder per Dekret beenden zu wollen, lässt sie aber nicht einfach verschwinden, sondern verstärkt ihre Wirkmacht sogar (das ist keine neue Erkenntnis, sondern eine psychologische Binsenweisheit). Dabei gibt es tatsächlich weder in der deutschen (Finanz-)Wirtschaft, noch in Politik oder Medien eine nennenswerte Anzahl von Jüd*innen, geschweige denn viele mit „Macht“. Kein Wunder: Es leben eh nur wenig mehr als 200.000 in Deutschland (0,2% der Gesamtbevölkerung). Von denen ist etwas mehr als die Hälfte erst nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert; weniger als die Hälfte gehört überhaupt einer jüdischen Gemeinde an.

Antisemitismus ist – ganz jenseits der spezifisch deutschen Historie – eine Haltung, die man heute als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet. Seine Wurzeln und Hintergründe zeigt die wirklich hervorragende arte-Dokumentation „Eine Geschichte des Antisemitismus“. Sie beleuchtet über zwei Jahrtausende Rassismus, Vertreibung und Gewalt gegen Angehörige dieser Religionsgemeinschaft und eine Verschwörungserzählung, die vor allem von den christlichen Kirchen in Europa über Jahrhunderte massiv befördert wurde. Wenn man ehrlich ist, muss man den Antisemitismus ein kulturelles Erbe des christlichen Abendlandes nennen, das tief in der Mentalitätsgeschichte Europas und seiner Bevölkerung verankert ist.

Der Dialog bleibt ohne Alternative

Das werden weder „In dieser Gesellschaft ist kein Platz für …“-Parolen, noch interreligiöse Pädagogik oder jüdische Theaterschiffe ändern. So richtig, wichtig und gut gemeint das alles ist: Die Angelegenheit ist deutlich komplizierter. Der Obmann der SPD im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages, Helge Lindh, beschreibt das just heute sehr treffend in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung (leider Paywall). Ebensowenig werden noch ein paar bilaterale Abkommen hier und internationale Verhandlungen dort oder weitere UN-Resolutionen für eine dauerhafte Wendung zum Besseren sorgen. Dazu bräuchte es sowohl umfassende Aushandlungsprozesse zwischen Israelis und Palästinensern als auch in allen Migrationsgesellschaften weltweit, nicht nur zwischen Juden und Muslimen, über Generationen hinweg. Das scheint gerade im Moment nicht sehr realistisch zu sein. Aber eine Alternative dazu? Ist nicht in Sicht.

Meron Mendel hat im oben verlinkten Interview betont, dass es auch in fünf Jahren wieder eine documenta geben sollte, es wäre die sechzehnte. Denn die Idee einer „Weltkunstschau“ – samt all ihrer Fallstricke – ist viel zu wichtig und zu groß, um sie wegen des temporären Scheiterns auf einem, wenn auch in Deutschland sehr bedeutenden politisch-gesellschaftlichen Konfliktfeld aufzugeben. Nicht zuletzt behielten so diejenigen Recht, die gerade, im selbst höchst eigenen Interesse, eine einseitige Instrumentalisierung der öffentlichen Erregung durch „die Anderen“ beklagen. Die nächste documenta wird ganz sicher ein anderes Verständnis von kuratorischer und politischer Verantwortung brauchen. Gleichzeitig gilt aber nicht nur für die Kunst selbst, sondern eben auch für ihre Darstellung und Vermittlung der legendäre Satz Samuel Becketts: „Ever tried, ever failed. No matter. Try again! Fail again! Fail better!“

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