documenta16 – try again, fail better!

Am Wochenende ist die documenta15 nach 100 Tagen und noch länger währenden Debatten über sie zu Ende gegangen. Dazu lassen sich drei Dinge mit Sicherheit sagen: Es waren erstens vereinzelt eindeutig antisemitische Werke zu sehen, das hätte zweitens nicht passieren dürfen und drittens andere Reaktionen von Kurator*innen und Geschäftsführung verlangt. Alles darüber hinaus bewegt sich im Feld von Meinung, Meinungsmache und – wie stets auf heiklem politischem Terrain – Instrumentalisierung im Eigeninteresse.

Dabei gerieten (zu) viele öffentliche Äußerungen und Diskussionen unterkomplex, sowohl seitens der unmittelbar Beteiligten wie im medialen Diskurs. Das indonesische Kollektiv Ruangrupa und sein Lumbung-Prinzip waren überfordert von der Notwendigkeit politischer Verantwortung für die von ihnen kuratierte Schau, von den moralischen Grundsätzen im Veranstalterland und vielleicht auch von den Beschränkungen der eigenen Perspektive auf die Welt. Geschäftsführung und Aufsichtsrat der documenta scheiterten organisatorisch wie intellektuell an der Aufgabe, das gut Gemeinte auch gut zu machen, vor allem als Krisenmanagement gefragt war. Und „die Öffentlichkeit“, damit sind vor allem das Feuilleton und der kulturpolitische Diskurs gemeint, changierte irgendwo zwischen der Forderung „Sofort abbrechen“ und „Hätte man doch mehr geredet“, was der Komplexität des Gegenstandes zu eigentlich keiner Zeit gerecht wurde.

Das muss nicht immer nur an den Sprechenden gelegen haben, sondern ist auch der enormen Vielschichtigkeit des Themas geschuldet. Es beinhaltet mindestens drei höchst unterschiedliche Sachebenen: Den Antisemitismus als historisches wie zeitgenössisches Phänomen; den israelisch-palästinensischen bzw. in einem weiteren Sinne jüdisch-arabischen Nahost-Konflikt, der sich im globalen Zusammenhang zu einer jüdisch-muslimischen Konfrontation, wenn nicht Feindschaft entwickelt hat; und drittens die Kunstfreiheit. Jedes dieser Felder ist schon für sich derart voll Grauzonen und Fallstricke, dass man sich darin auch bei bestem Willen und größter Anstrengung mühelos verheddern kann. Ebenso unübersichtlich wie gefahrenreich wird der Diskurs erst recht da, wo sich diese Ebenen berühren oder gar miteinander verschränken.

Es gibt die eine Wahrheit nicht

Die Teilgebiete und ihre Interdependenzen an dieser Stelle auch nur annähernd auszuleuchten, ist ein Ding der Unmöglichkeit, von nachhaltiger Klärung ganz zu schweigen. Das ist viel klügeren Menschen als ich es bin im Laufe der vergangenen Jahrzehnte schon nicht gelungen, also versuche ich es – jedenfalls in diesem Rahmen – erst gar nicht.

Gleichwohl will ich die Komplexität selbst benennen und damit deutlich machen, dass jedenfalls vermeintlich eindeutige Haltungen oder „klare Kanten“ bei näherem Hinsehen weder möglich noch zielführend sind, so sehr wir uns das in unserer Sehnsucht nach Übersichtlichkeit und Ordnung auch wünschen mögen. Ob der Zentralrat der Juden, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung oder seine für Kultur zuständige Kollegin im Kanzleramt, ob der Deutsche Kulturrat (mit der etwas seltsamen Frage „Ist der Kulturbereich antisemitisch?“) oder die weltweit renommierte Künstlerin Hito Steyerl (die ihren documenta-Beitrag nach wenigen Tagen aus Protest zurückzog und entfernen ließ): Niemand verfügt in dieser Debatte über die eine Wahrheit, weil es sie schlicht nicht gibt. Sie kann auch nicht durch irgendeine Hintertür eingefordert werden.

Mendels Kunst des transparenten Sowohl-als-auch

Zumindest ein Akteur hat im Umgang mit der documenta15 gezeigt, wie es besser gehen könnte: Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Er hatte das indonesische Kurator*innen-Kollektiv weit vor der Eröffnung der Kasseler Ausstellung zunächst gegen pauschale Antisemitismus-Verdächtigungen in Schutz genommen, ohne dabei die Gefahr selbst zu leugnen. Als dann Werke einschlägigen Inhalts auftauchten, wurde er von der documenta-Geschäftsführung als Berater berufen – um anschließend nachweislich wochenlang nichts von den Verantwortlichen zu hören. Also legte er seine offizielle (Nicht-)Tätigkeit nieder und machte sich auf eigene Faust ein Bild von der Ausstellung als Ganzes. In der Folge identifizierte Mendel einerseits Exponate eindeutig antisemitischen Inhalts (eine einstellige Zahl mitunter mehrteiliger Beiträge unter mehr als 1000 Werken insgesamt) und benannte unmissverständlich die Fehler von Kurator*innen, Geschäftsleitung und Aufsichtsrat. Gleichzeitig kritisierte er unter anderem die scharfen Reaktionen des Zentralrats der Juden und betonte immer wieder, dass die documenta15 insgesamt keine antisemitische Kunstausstellung sei. Noch in der vergangenen Woche forderte er in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur alle Interessierten dazu auf, auch die letzten Tage der Schau zu nutzen, weil sich der Besuch lohne und die überwältigende Mehrheit der documenta-Künstler*innen durch die Vorfälle zu Unrecht in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Das sahen dem Vernehmen nach auch die mehr als 700.000 Besucher*innen so, die seit Anfang Juni nach Kassel gekommen sind.

Grundmuster Chauvinismus

Strukturell ist der Antisemitismus wie auch Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Ableismus usw. eine Form des übergeordneten Phänomens Chauvinismus: Es geht um konstruierte Über- bzw. Unterlegenheit eines vermeintlich „Eigenen“ gegenüber einem erkennbar „Anderen“ samt dessen Bedrohlichkeit und die zugehörige Erzählung, also eine kulturelle oder sogar vermeintlich wissenschaftliche Begründung dafür. Um die Wirkmacht solcher Narrative wirklich dauerhaft aufzubrechen, müssen die allen Menschen unterschiedslos gemeinsamen Rechte, Freiheiten und Eigenschaften betont und verteidigt werden, ohne dabei das offensichtlich Verschiedene zu leugnen, ob in äußerer Erscheinung oder Verhalten. Es geht um Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit zur intellektuellen wie emotionalen Resilienz, also um Besonnenheit und Differenzierung statt Rabulistik und Zuspitzung. Dabei sind vielgeäußerte Parolen wie jene, dass der Antisemitismus „keinen Platz in unserer Gesellschaft“ habe eher kontraproduktiv, auch weil sie schlicht die Realität leugnen: Nicht erst aus jüngsten Studien wissen wir, dass beinahe ein Viertel aller Deutschen der Ansicht ist, Jüd*innen hätten zuviel Macht in Wirtschaft und Finanzwesen; fast ein Fünftel stimmt dieser Aussage für Politik und Medien zu.

Ein Erbe des christlichen Abendlands

Antijüdische Haltungen sind in „der Gesellschaft“ weit verbreitet, wenn auch nicht mehrheitsfähig; ihre Existenz zu leugnen oder per Dekret beenden zu wollen, lässt sie aber nicht einfach verschwinden, sondern verstärkt ihre Wirkmacht sogar (das ist keine neue Erkenntnis, sondern eine psychologische Binsenweisheit). Dabei gibt es tatsächlich weder in der deutschen (Finanz-)Wirtschaft, noch in Politik oder Medien eine nennenswerte Anzahl von Jüd*innen, geschweige denn viele mit „Macht“. Kein Wunder: Es leben eh nur wenig mehr als 200.000 in Deutschland (0,2% der Gesamtbevölkerung). Von denen ist etwas mehr als die Hälfte erst nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert; weniger als die Hälfte gehört überhaupt einer jüdischen Gemeinde an.

Antisemitismus ist – ganz jenseits der spezifisch deutschen Historie – eine Haltung, die man heute als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet. Seine Wurzeln und Hintergründe zeigt die wirklich hervorragende arte-Dokumentation „Eine Geschichte des Antisemitismus“. Sie beleuchtet über zwei Jahrtausende Rassismus, Vertreibung und Gewalt gegen Angehörige dieser Religionsgemeinschaft und eine Verschwörungserzählung, die vor allem von den christlichen Kirchen in Europa über Jahrhunderte massiv befördert wurde. Wenn man ehrlich ist, muss man den Antisemitismus ein kulturelles Erbe des christlichen Abendlandes nennen, das tief in der Mentalitätsgeschichte Europas und seiner Bevölkerung verankert ist.

Der Dialog bleibt ohne Alternative

Das werden weder „In dieser Gesellschaft ist kein Platz für …“-Parolen, noch interreligiöse Pädagogik oder jüdische Theaterschiffe ändern. So richtig, wichtig und gut gemeint das alles ist: Die Angelegenheit ist deutlich komplizierter. Der Obmann der SPD im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages, Helge Lindh, beschreibt das just heute sehr treffend in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung (leider Paywall). Ebensowenig werden noch ein paar bilaterale Abkommen hier und internationale Verhandlungen dort oder weitere UN-Resolutionen für eine dauerhafte Wendung zum Besseren sorgen. Dazu bräuchte es sowohl umfassende Aushandlungsprozesse zwischen Israelis und Palästinensern als auch in allen Migrationsgesellschaften weltweit, nicht nur zwischen Juden und Muslimen, über Generationen hinweg. Das scheint gerade im Moment nicht sehr realistisch zu sein. Aber eine Alternative dazu? Ist nicht in Sicht.

Meron Mendel hat im oben verlinkten Interview betont, dass es auch in fünf Jahren wieder eine documenta geben sollte, es wäre die sechzehnte. Denn die Idee einer „Weltkunstschau“ – samt all ihrer Fallstricke – ist viel zu wichtig und zu groß, um sie wegen des temporären Scheiterns auf einem, wenn auch in Deutschland sehr bedeutenden politisch-gesellschaftlichen Konfliktfeld aufzugeben. Nicht zuletzt behielten so diejenigen Recht, die gerade, im selbst höchst eigenen Interesse, eine einseitige Instrumentalisierung der öffentlichen Erregung durch „die Anderen“ beklagen. Die nächste documenta wird ganz sicher ein anderes Verständnis von kuratorischer und politischer Verantwortung brauchen. Gleichzeitig gilt aber nicht nur für die Kunst selbst, sondern eben auch für ihre Darstellung und Vermittlung der legendäre Satz Samuel Becketts: „Ever tried, ever failed. No matter. Try again! Fail again! Fail better!“

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Zur Kenntnis extra: (K)Eine Wahl für die Kultur

Am Sonntag wählt NRW einen neuen Landtag. Die Kultur steht zwar in allen Wahlprogrammen weit hinten, die vier Parteien mit Chancen auf eine Regierungsbeteiligung wollen aber trotzdem viel. Das ist das Problem: Alle wissen, dass es nicht weitergehen kann wie bisher – doch alle versprechen noch mehr vom Gleichen.

Die Christdemokraten haben die Latte ganz schön hochgelegt: 50 Prozent mehr im Kulturetat, so stand es schon 2017 im Wahlprogramm der Partei. Die CDU gewann, vereinbarte eine Koalition mit der FDP, der Haushalt wurde in den fünf Jahren danach schrittweise von 200 auf aktuell 315 Millionen Euro erhöht. Diesen Weg wolle man weitergehen, sagt der kulturpolitische Sprecher der CDU im Landesparlament, der Kölner Parteivorsitzende Bernd Petelkau. Seine Partei liegt in den letzten Umfragen ganz knapp vor der NRW-SPD. Die hatte sich seit dem Wechsel ihres Übervaters Johannes Rau ins Bundespräsidentenamt 1999 schwer getan mit der Kultur. Die Fachpolitiker*innen der Partei um den Wuppertaler Abgeordneten Andreas Bialas standen mitunter fassungslos dabei, wenn ihre bisher letzte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft die eigene Kultur-Ferne regelrecht öffentlich zelebrierte. Umso überraschender wollen die die Sozialdemokraten unter ihrem neuen Parteichef und Spitzenkandidaten Thomas Kutschaty nicht mehr kleckern, sondern klotzen. Damit der in Wahrheit selbe Plan trotzdem nach mehr klingt als bei der CDU, wird aus den 50 Prozent binnen fünf Jahren halt eine Verdoppelung bis 2032 gemacht.

Die Chancen stehen also gut, dass auch die nächste Legislaturperiode ein sattes Plus für den Landeskulturetat bringt: Die Grünen – mit einem Ergebnis knapp unter 20 Prozent in den Prognosen die wahrscheinlichsten Regierungspartner für eine Zweierkoalition bis 2027 – nennen bislang keine Zahlen, wollen die Mittel aber laut Wahlprogramm auch „deutlich“ erhöhen. Der bisherige Regierungspartner FDP hat immerhin 20 Millionen mehr pro Jahr als Ziel ausgegeben, ließe sich aber gern hochhandeln, wie der kulturpolitische Sprecher Lorenz Deutsch mir im WDR-Hörfunk erklärte.

20 oder 30 Millionen? Egal, Hauptsache mehr

Profitieren sollen am besten alle: Von den kommunalen Theatern und Orchestern über die Einrichtungen der Freien Szene bis zur Kulturellen Bildung. Für Künstler*innen in landesgeförderten Projekten wird es künftig Mindesthonorare geben, der Ländliche Raum steht, in dieser oder jener Ausprägung, ebenfalls auf der Agenda aller Parteien. Mehr, mehr, mehr – vor allem den von der Pandemie gebeutelten Soloselbstständigen sowie den Ensembles und Einrichtungen der Freien Szene gönnt man es ja auch wirklich von Herzen. Die guten Gründe, immer mehr Geld für Kultur auszugeben, sind Legende: Sie bringe die Menschen zusammen, verhandele die Themen der Stadtgesellschaft, ermögliche Selbst- und Fremderfahrung, erweitere den Horizont und im Zweifel rettet sie auch gleich noch die Demokratie insgesamt vor den Anfechtungen rechter und linker Ideolog(i)en und überhaupt: Kultur ist per se gut … und niemand fragt oder überprüft gar, ob das eigentlich stimmt.

Dann müsste man nämlich noch eine andere Geschichte erzählen: Dass viele Theater und Museen sich seit Jahren den Allerwertesten aufreißen, aber trotzdem bloß eine – mitunter sehr kleine – Minderheit der Bevölkerung an den Bemühungen und Ergebnissen interessiert ist; öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen werden bestenfalls von der Hälfte der Bevölkerung überhaupt genutzt, Tendenz fallend. Auch viele freie Kunstprojekte entstehen in Wahrheit nicht etwa, weil die Gesellschaft und ihre Bürger*innen erkennbar nach der ästhetischen Erfahrung mit und in ihnen gieren, sondern weil Künstler*innen sie sich ausdenken, um staatliche Mittel dafür beantragen zu können. Die brauchen viele dringend, weil sie am „Markt“ mit ihrer künstlerischen Arbeit keine nennenswerten Umsätze generieren (können). Damit wir uns gar nicht erst falsch verstehen: Das ist eine Feststellung, die nicht den leistesten Vorwurf an diese Akteur*innen enthält. Selbst was aus fachlicher Perspektive interessant und/oder qualitativ hochwertig ist, wird aber bestenfalls von einem Nischenpublikum erlebt, das in der Regel aus Künstler-Kolleg*innen und ein paar nerdigen Fans besteht. Echte öffentliche Resonanz oder gar Relevanz? Fehlanzeige – die wenigen Ausnahmen bestätigen leider bloß die Regel. Gesellschaftlicher Mehrwert entsteht so kaum: Ein-, zwei- oder dreimal gezeigt verschwindet das Allermeiste im angeblichen kulturellen Gedächtnis, eigentlich aber auf einem riesigen Kunstfriedhof. Es muss ja sofort das nächste Projekt beantragt und realisiert werden, weil man von irgendwas die Miete bezahlen muss.

Alle wissen, wie bekloppt das ist

Dieses System – die viel beklagte „Projektitis“ – war schon immer bescheuert, aber im Zeichen der großen Herausforderungen durch den Klimawandel, die Nachhaltigkeitsziele sowie der immer lauter werdenden Forderungen nach Diversität und Teilhabe viel zu lange (!) vernachlässigter Gruppen rutscht es zunehmend ins Absurde. Wobei eben nicht nur die Freie Szene und die Soziokultur, deren Geschäftsmodelle maßgeblich auf der Ex-und-Hopp-Projektförderspirale basieren, dieser aus der Zeit gefallenen Wachstumslogik schon aus Selbsterhaltungsinteresse immer weiter zwanghaft folgen (müssen). Auch die staatlichen Institutionen, Sprech- und Musiktheater, Museen oder Festivals sind nämlich längst dem Wahn des ewigen Mehr verfallen: Egal, wo man hinsieht, werden mehr Premieren, mehr Ausstellungen, mehr Gastspiele vermeldet – und schnell noch ’n Pop-Up-Event dazwischen. Besonders irre: Alle wissen, wie bekloppt und paradox das ist, denn die Künstler*innen selbst sind wie die Kulturmanagerinnen, -verwalter und -politikerinnen ja nicht blöd, im Gegenteil. Doch niemand durchbricht die Spirale, ein paar mutige Einzeltäter*innen (Christina Ludwig im Stadtmuseum Dresden zum Beispiel) ausgenommen. Entgegen der öffentlichen Belobigung halten von denen aber alle anderen im Interesse der eigenen Existenzsicherung möglichst weiträumig Abstand.

Die eigentlich wichtige Frage wird nicht gestellt

So werden auch im größten Bundesland des größten Mitgliedsstaates der Europäischen Union nach dem kommenden Sonntag wieder zwei, vielleicht auch drei Parteien eine Regierung bilden, die „der“ Kultur nicht nur mehr verspricht, sondern auch gibt. Mit echten Bedarf – jenseits der Förderempfänger*innen selbst – oder gar einer Notwendigkeit hat das alles nichts zu tun. Als Begründung reicht tatsächlich, dass wer die Kunst liebt, von ihr nicht genug bekommen kann, im wahren Sinne des Wortes.

So ist „die Kultur“ im Laufe der Jahrzehnte etwas geworden, das zu sein sie offiziell scheut wie der Teufel das Weihwasser: Ein Luxus, den der Staat sich leistet, weil er das Geld dazu hat – noch nicht mal neue Straßen werden im Automobil-vernarrten Deutschland so schlecht begründet gebaut wie vermutlich jeder zweite Projekttopf entsteht. Daran wird sich in Nordrhein-Westfalen auch in den nächsten fünf Jahren absehbar nichts ändern: In Sachen Kultur bilden die Parteien im Parlament die größtmögliche Koalition, die man sich denken kann. Die wirklich wichtige Frage, was unsere Gesellschaft im Zusammenhang mit Kultur unter Allgemeiner Daseinsvorsorge genau versteht und deshalb fair bezahlt bereitstellen will, wird weder gestellt, geschweige denn beantwortet. Also gibt es auch in den nächsten fünf Jahren nur wieder ein bisschen mehr oder weniger Kulturelle Bildung, Soziokultur, Digitalisierung oder Kreativwirtschaft. Jenseits dieser Details gibt es für die Kultur am Sonntag nicht wirklich eine Wahl.

IN EIGENER SACHE: Für WDR 3 habe ich eine kleine Serie über die Kultur in den Wahlprogrammen der Parteien gemacht. Kann man hier nachhören. Bei WDR 5 gab es in der Sendung „Scala“ einen etwas längeren Einzelbeitrag zum selben Thema. Beide Formate sind keine Kommentare, sondern leicht erweiterte Berichtsformen. Was ich persönlich ganz grundsätzlich zum Thema meine, hat dort nichts verloren – dafür ist hier im Blog der richtige Platz.

Foto: (c) Peter Grabowski

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Zur Kenntnis: (Kein) Alltag im Krieg

Der russische Einmarsch in die Ukraine ist das zurzeit alles überragende Thema. Dabei (er-)leben wir eine Form kognitiver wie emotionaler Dissonanz: Die Bilder von militärischer Gewalt und menschlicher Not sorgen sowohl für Mitleid im wahren Sinne des Wortes als auch für Ängste um die eigene Zukunft. Gleichzeitig scheint der berufliche oder familiäre Alltag nahezu unberührt weiter zu gehen: Aufstehen und Frühstücken, KiTa, Schule und (Home) Office, Einkaufen und Freunde treffen. Es fühlt sich manchmal ein bisschen unwirklich, mitunter sogar regelrecht absurd an.

Das gilt genauso für die Kultur: Einerseits reagieren Künstler*innen, Verbände und Kulturpolitik auf die schrecklichen Ereignisse in der Ukraine. Andererseits werden weiter Konzerte veranstaltet, Romane veröffentlicht und Wahlprogramme verabschiedet. Einflussreiche Menschen gehen in Rente, nicht nur ihre Stellen werden neu besetzt. Viele Ereignisse dieser Art sind in den letzten Wochen aus ebenso naheliegenden wie nachvollziehbaren Gründen öffentlich wenig wahrgenommen wurden. Wie immer weise ich in diesem unregelmäßig erscheinenden Newsletter auf einige hin, dreien widme ich dieses Mal ein paar Zeilen mehr.

Dem kulturpolitischen Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag, Andreas Bialas, ist zum Beispiel etwas gelungen, das selbst ältestgedienten Mitgliedern der SPD-Vereinigung Kulturforum zwischen Bielefeld und Bonn die Tränen der Rührung in die Augen treibt: Auf dem Wahlparteitag der NRW-Sozis Mitte Februar wurde allen Ernstes beschlossen, im Falle einer Regierungsübernahme die Kulturausgaben des Landes … nein, nicht einfach bloß zu erhöhen, was an sich schon eine goldgerahmte Eilmeldung wert wäre, sondern bis 2032 zu … verdoppeln. Das ist kein Witz, das steht wirklich im Wahlprogramm. Jetzt will die SPD also das Gleiche wie die CDU, die ja schon in den vergangenen fünf Jahren – zusammen mit der FDP – fast 60 Prozent draufgelegt hat. Und das heißt, dass zumindest in der nächsten Wahlperiode der Zuwachs wieder ähnlich hoch ausfallen wird, weil eine der beiden großen Parteien den Ministerpräsidenten stellen wird. Für die nordrhein-westfälische SPD ist das nach den kulturpolitischen Hunger-Jahren unter Hannelore „Mensch-ärgere-dich-nicht-ist-auch-Kultur“ Kraft ein echter Quantensprung. Merke: Steter Tropfen höhlt den Stein (eine Spielart des Historischen Materialismus).

Meanwhile … hat sich in Berlin ein bemerkenswerter Governmental Turn ereignet: Vom kürzlich noch als unverzichtbar geltenden Existenzgeld für Künstler*innen in der Pandemie, das Bündnis90/Die Grünen sowohl in mehreren Anträgen im Deutschen Bundestag als auch explizit in ihrem Bundestagswahlprogramm (Seite 206) gefordert hatten, hört man seit Eintritt der Partei in die Ampelkoalition plötzlich so gar nichts mehr. Stattdessen lobte die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth Ende Januar im Kulturausschuss des Bundestages ausdrücklich die von der Großen Koalition beschlossenen Hilfen und deren Erfolge; das klang drei Tage vor der Wahl im September in einem Beitrag für die ZEIT noch ganz anders. Mich erinnert das an was:
„As the present now will later be past
The order is rapidly fadin‘
And the first one now will later be last
For the times, they are a-changin‘

Schließlich noch eine Meldung aus dem Maschinenraum der deutschen Kulturpolitik: Klaus Hebborn hat sich Ende Januar in den Ruhestand verabschiedet. Die vergangenen 16 Jahre war er als Beigeordneter für Bildung, Kultur und Sport für die Kulturpolitik des Deutschen Städtetages und der sogenannten Kommunalen Familie insgesamt so prägend wie niemand sonst. Die bisherige Dortmunder Schul- und Jugenddezernentin Daniela Schneckenburger (B90/Grüne) ist bereits als Nachfolgerin gewählt, tritt ihr Amt aber erst im Laufe des zweiten Quartals an. Der Stabwechsel findet in bewegten Zeiten statt, in denen die Bundesregierung unter anderem ein neues Plenum für Kultur schaffen will. Das hat man sich wohl als eine Art Ständiger Konferenz von Bund, Ländern und Kommunen mit Verbänden und Zivilgesellschaft vorzustellen, um der föderalen Kulturförderung neue Impulse zu geben und eine bessere Abstimmung zwischen den Akteuren zu erreichen; Konkretes ist bisher nicht bekannt. Dem Neu-Pensionär (ähemm …) und seiner Nachfolgerin an dieser Stelle für dieses wie jenes ein herzliches: Glückauf!

Aktuelle Informationen zum Ukraine-Krieg

… und sonst:

Erste Vorarbeiten: Kulturministerkonferenz und Kulturstaatsministerin Roth beraten Gutachten zur Verbesserung der wirtschaftliche Lage und sozialen Sicherung von Künstler*innen

Berliner Rochade: Der Direktor der Zentral- und Landesbibliothek, Volker Heller, löst den Direktor der HU-Bibliothek, Andreas Degkwitz, als Vorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbandes ab (Pressemitteilungen gibt es da unpraktischerweise nur noch als PDF-Download)

Längere Liste: Die Kulturministerkonferenz der Länder und Kulturstaatsministerin Claudia Roth haben fünf Neueinträge für das Immaterielle Kulturerbe beschlossen

Na endlich! Die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger will Mindestgagen vergleichbar zu Einstiegsgehältern für andere Akademiker*innen

„Echt, jetzt erst?“ Axel Brüggemann fragt bei Crescendo nicht nur nach der Russland-Connection des SemperOpernballs (fast noch aufschlussreicher: die Kommentare darunter)

Einsicht greift um sich: Auch das Washingtoner Smithsonian Institute will Benin-Bronzen restituieren

Grünes Licht für Kultur: Die Bundesregierung hat eine Lüftungs-Ampel für Theatern und Co entwickeln lassen

Nur acht Jahre später: Niedersachsen soll ein Kulturfördergesetz nach nordrhein-westfälischem Vorbild bekommen – es steht nur noch weniger drin

Was lange währt … der Deutsche Kulturrat begrüßt Vorschläge der EU-Kommission, die den Weg für Mindesthonorare und -vergütungen von Künstler*innen freimachen (das ist nämlich leider auch komplizierter als man so denkt)

Die Null muss stehen: Die Kulturstiftung des Bundes beschließt das Programm Zero für klimaneutrale Kunst

Endlich Fortschritt: Der Deutsche Kulturrat begrüßt Vorschläge der EU-Kommission, die den Weg für Mindesthonorare und -vergütungen von Künstler*innen freimachen (das ist nämlich leider auch komplizierter als man so denkt)

The long and winding road … Die Londoner Tate Gallery ringt mit einem Monumentalgemälde, das rassistische Klischees zeigt

Reif fürs Museum: Das Ostwall in Dortmunder U bekommt eine Doppelspitze

Gegen jede Vernunft: Der Bundesrechnungshof kritisiert Monika Grütters‚ Förderentscheidungen für die Potsdamer Garnisonkirche mit deutlichen Worten

Gegen die Wand: Die NRW-Landesregierung will vor der Landtagswahl im Mai ihr neues Denkmalschutzgesetz durchboxen – Experten landesweit sind auch vom dritten Entwurf entsetzt

„Geldwäsche? Kaum!“ Das US-Finanzministerium sieht im Kunsthandel wenig Risiken, auch wenn sich das mit NFTs ändern könnt

“ … und zum Dritten!“: NRW legt noch mal ein Stipendienprogramm mit je 6000 Euro für maximal 15 000 Künstler*innen auf

Prominenter Zugang: Der vormalige Direktor des Deutschen Bühnenvereins und Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft, Marc Grandmontagne, vertritt die Personalberatung Kulturexperten in Wien

Décennies plus tard: Die Französische Nationalversammlung beschließt zum ersten Mal die Rückgabe von Raubkunst an jüdische Vorbesitzer

Versteckt gelegen: Das Verborgene Museum schließt und gibt sein Archiv an die Berlinische Galerie – das fällt sogar international auf

Schluss mit dem Unfug: US-Präsident Biden hebt eine Reihe kunstfeindlicher Trump-Verordnungen auf

Vorhang zu: Yvonne Büdenhölzer gibt die Leitung des Theatertreffens ab

IN EIGENER SACHE 1: Für den neuen Podcast „Alles klar, Klassik?“ wurde ich dazu befragt, ob Kulturförderung eine Begründung braucht, warum die immer mal wieder wechselt und leider nie zu Ende gedacht wird. Wer letzte Antworten erwartet, wird enttäuscht – vielleicht aber wird die Debatte wenigstens endlich begonnen. Ich habe übrigens leider wieder mal vergessen, einen zentralen Satz im Zusammenhang mit der Finanzierung öffentlicher Kultureinrichtungen nicht nur zu denken, sondern auch auszusprechen: „Der Staat kann sich nicht selbst subventionieren“.

IN EIGENER SACHE 2: Für die Februar-Ausgabe der Politik & Kultur des Deutschen Kulturrates habe ich NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen anlässlich ihrer Übernahme des Vorsitzes der Kultur-MK der Länder interviewt (Seite 4); für die eben erschienene März-Ausgabe die Generalsekretärin der Kunststiftung NRW, Andrea Firmenich (Seite 8).

Leseempfehlung 1: Die IG Kunsthandel hat ihre 2019er Tagung „Fair und Gerecht?“ umfassend dokumentiert. Als Buch 45 Euro – als PDF gratis

Leseempfehlung 2: Kulturpolitische Gesellschaft und Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) starten eine neue Schriftenreihe mit dem Band „Agilität“

Zuletzt eine Hörempfehlung für Kunstfreunde mit Englischkenntnissen: Alec Baldwin präsentiert einen neuen True-Crime-Podcast über den größten Fälschungsskandal der US-Geschichte

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