Am Wochenende ist die documenta15 nach 100 Tagen und noch länger währenden Debatten über sie zu Ende gegangen. Dazu lassen sich drei Dinge mit Sicherheit sagen: Es waren erstens vereinzelt eindeutig antisemitische Werke zu sehen, das hätte zweitens nicht passieren dürfen und drittens andere Reaktionen von Kurator*innen und Geschäftsführung verlangt. Alles darüber hinaus bewegt sich im Feld von Meinung, Meinungsmache und – wie stets auf heiklem politischem Terrain – Instrumentalisierung im Eigeninteresse.
Dabei gerieten (zu) viele öffentliche Äußerungen und Diskussionen unterkomplex, sowohl seitens der unmittelbar Beteiligten wie im medialen Diskurs. Das indonesische Kollektiv Ruangrupa und sein Lumbung-Prinzip waren überfordert von der Notwendigkeit politischer Verantwortung für die von ihnen kuratierte Schau, von den moralischen Grundsätzen im Veranstalterland und vielleicht auch von den Beschränkungen der eigenen Perspektive auf die Welt. Geschäftsführung und Aufsichtsrat der documenta scheiterten organisatorisch wie intellektuell an der Aufgabe, das gut Gemeinte auch gut zu machen, vor allem als Krisenmanagement gefragt war. Und „die Öffentlichkeit“, damit sind vor allem das Feuilleton und der kulturpolitische Diskurs gemeint, changierte irgendwo zwischen der Forderung „Sofort abbrechen“ und „Hätte man doch mehr geredet“, was der Komplexität des Gegenstandes zu eigentlich keiner Zeit gerecht wurde.
Das muss nicht immer nur an den Sprechenden gelegen haben, sondern ist auch der enormen Vielschichtigkeit des Themas geschuldet. Es beinhaltet mindestens drei höchst unterschiedliche Sachebenen: Den Antisemitismus als historisches wie zeitgenössisches Phänomen; den israelisch-palästinensischen bzw. in einem weiteren Sinne jüdisch-arabischen Nahost-Konflikt, der sich im globalen Zusammenhang zu einer jüdisch-muslimischen Konfrontation, wenn nicht Feindschaft entwickelt hat; und drittens die Kunstfreiheit. Jedes dieser Felder ist schon für sich derart voll Grauzonen und Fallstricke, dass man sich darin auch bei bestem Willen und größter Anstrengung mühelos verheddern kann. Ebenso unübersichtlich wie gefahrenreich wird der Diskurs erst recht da, wo sich diese Ebenen berühren oder gar miteinander verschränken.
Es gibt die eine Wahrheit nicht
Die Teilgebiete und ihre Interdependenzen an dieser Stelle auch nur annähernd auszuleuchten, ist ein Ding der Unmöglichkeit, von nachhaltiger Klärung ganz zu schweigen. Das ist viel klügeren Menschen als ich es bin im Laufe der vergangenen Jahrzehnte schon nicht gelungen, also versuche ich es – jedenfalls in diesem Rahmen – erst gar nicht.
Gleichwohl will ich die Komplexität selbst benennen und damit deutlich machen, dass jedenfalls vermeintlich eindeutige Haltungen oder „klare Kanten“ bei näherem Hinsehen weder möglich noch zielführend sind, so sehr wir uns das in unserer Sehnsucht nach Übersichtlichkeit und Ordnung auch wünschen mögen. Ob der Zentralrat der Juden, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung oder seine für Kultur zuständige Kollegin im Kanzleramt, ob der Deutsche Kulturrat (mit der etwas seltsamen Frage „Ist der Kulturbereich antisemitisch?“) oder die weltweit renommierte Künstlerin Hito Steyerl (die ihren documenta-Beitrag nach wenigen Tagen aus Protest zurückzog und entfernen ließ): Niemand verfügt in dieser Debatte über die eine Wahrheit, weil es sie schlicht nicht gibt. Sie kann auch nicht durch irgendeine Hintertür eingefordert werden.
Mendels Kunst des transparenten Sowohl-als-auch
Zumindest ein Akteur hat im Umgang mit der documenta15 gezeigt, wie es besser gehen könnte: Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Er hatte das indonesische Kurator*innen-Kollektiv weit vor der Eröffnung der Kasseler Ausstellung zunächst gegen pauschale Antisemitismus-Verdächtigungen in Schutz genommen, ohne dabei die Gefahr selbst zu leugnen. Als dann Werke einschlägigen Inhalts auftauchten, wurde er von der documenta-Geschäftsführung als Berater berufen – um anschließend nachweislich wochenlang nichts von den Verantwortlichen zu hören. Also legte er seine offizielle (Nicht-)Tätigkeit nieder und machte sich auf eigene Faust ein Bild von der Ausstellung als Ganzes. In der Folge identifizierte Mendel einerseits Exponate eindeutig antisemitischen Inhalts (eine einstellige Zahl mitunter mehrteiliger Beiträge unter mehr als 1000 Werken insgesamt) und benannte unmissverständlich die Fehler von Kurator*innen, Geschäftsleitung und Aufsichtsrat. Gleichzeitig kritisierte er unter anderem die scharfen Reaktionen des Zentralrats der Juden und betonte immer wieder, dass die documenta15 insgesamt keine antisemitische Kunstausstellung sei. Noch in der vergangenen Woche forderte er in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur alle Interessierten dazu auf, auch die letzten Tage der Schau zu nutzen, weil sich der Besuch lohne und die überwältigende Mehrheit der documenta-Künstler*innen durch die Vorfälle zu Unrecht in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Das sahen dem Vernehmen nach auch die mehr als 700.000 Besucher*innen so, die seit Anfang Juni nach Kassel gekommen sind.
Grundmuster Chauvinismus
Strukturell ist der Antisemitismus wie auch Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Ableismus usw. eine Form des übergeordneten Phänomens Chauvinismus: Es geht um konstruierte Über- bzw. Unterlegenheit eines vermeintlich „Eigenen“ gegenüber einem erkennbar „Anderen“ samt dessen Bedrohlichkeit und die zugehörige Erzählung, also eine kulturelle oder sogar vermeintlich wissenschaftliche Begründung dafür. Um die Wirkmacht solcher Narrative wirklich dauerhaft aufzubrechen, müssen die allen Menschen unterschiedslos gemeinsamen Rechte, Freiheiten und Eigenschaften betont und verteidigt werden, ohne dabei das offensichtlich Verschiedene zu leugnen, ob in äußerer Erscheinung oder Verhalten. Es geht um Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit zur intellektuellen wie emotionalen Resilienz, also um Besonnenheit und Differenzierung statt Rabulistik und Zuspitzung. Dabei sind vielgeäußerte Parolen wie jene, dass der Antisemitismus „keinen Platz in unserer Gesellschaft“ habe eher kontraproduktiv, auch weil sie schlicht die Realität leugnen: Nicht erst aus jüngsten Studien wissen wir, dass beinahe ein Viertel aller Deutschen der Ansicht ist, Jüd*innen hätten zuviel Macht in Wirtschaft und Finanzwesen; fast ein Fünftel stimmt dieser Aussage für Politik und Medien zu.
Ein Erbe des christlichen Abendlands
Antijüdische Haltungen sind in „der Gesellschaft“ weit verbreitet, wenn auch nicht mehrheitsfähig; ihre Existenz zu leugnen oder per Dekret beenden zu wollen, lässt sie aber nicht einfach verschwinden, sondern verstärkt ihre Wirkmacht sogar (das ist keine neue Erkenntnis, sondern eine psychologische Binsenweisheit). Dabei gibt es tatsächlich weder in der deutschen (Finanz-)Wirtschaft, noch in Politik oder Medien eine nennenswerte Anzahl von Jüd*innen, geschweige denn viele mit „Macht“. Kein Wunder: Es leben eh nur wenig mehr als 200.000 in Deutschland (0,2% der Gesamtbevölkerung). Von denen ist etwas mehr als die Hälfte erst nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert; weniger als die Hälfte gehört überhaupt einer jüdischen Gemeinde an.
Antisemitismus ist – ganz jenseits der spezifisch deutschen Historie – eine Haltung, die man heute als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet. Seine Wurzeln und Hintergründe zeigt die wirklich hervorragende arte-Dokumentation „Eine Geschichte des Antisemitismus“. Sie beleuchtet über zwei Jahrtausende Rassismus, Vertreibung und Gewalt gegen Angehörige dieser Religionsgemeinschaft und eine Verschwörungserzählung, die vor allem von den christlichen Kirchen in Europa über Jahrhunderte massiv befördert wurde. Wenn man ehrlich ist, muss man den Antisemitismus ein kulturelles Erbe des christlichen Abendlandes nennen, das tief in der Mentalitätsgeschichte Europas und seiner Bevölkerung verankert ist.
Der Dialog bleibt ohne Alternative
Das werden weder „In dieser Gesellschaft ist kein Platz für …“-Parolen, noch interreligiöse Pädagogik oder jüdische Theaterschiffe ändern. So richtig, wichtig und gut gemeint das alles ist: Die Angelegenheit ist deutlich komplizierter. Der Obmann der SPD im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages, Helge Lindh, beschreibt das just heute sehr treffend in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung (leider Paywall). Ebensowenig werden noch ein paar bilaterale Abkommen hier und internationale Verhandlungen dort oder weitere UN-Resolutionen für eine dauerhafte Wendung zum Besseren sorgen. Dazu bräuchte es sowohl umfassende Aushandlungsprozesse zwischen Israelis und Palästinensern als auch in allen Migrationsgesellschaften weltweit, nicht nur zwischen Juden und Muslimen, über Generationen hinweg. Das scheint gerade im Moment nicht sehr realistisch zu sein. Aber eine Alternative dazu? Ist nicht in Sicht.
Meron Mendel hat im oben verlinkten Interview betont, dass es auch in fünf Jahren wieder eine documenta geben sollte, es wäre die sechzehnte. Denn die Idee einer „Weltkunstschau“ – samt all ihrer Fallstricke – ist viel zu wichtig und zu groß, um sie wegen des temporären Scheiterns auf einem, wenn auch in Deutschland sehr bedeutenden politisch-gesellschaftlichen Konfliktfeld aufzugeben. Nicht zuletzt behielten so diejenigen Recht, die gerade, im selbst höchst eigenen Interesse, eine einseitige Instrumentalisierung der öffentlichen Erregung durch „die Anderen“ beklagen. Die nächste documenta wird ganz sicher ein anderes Verständnis von kuratorischer und politischer Verantwortung brauchen. Gleichzeitig gilt aber nicht nur für die Kunst selbst, sondern eben auch für ihre Darstellung und Vermittlung der legendäre Satz Samuel Becketts: „Ever tried, ever failed. No matter. Try again! Fail again! Fail better!“