Zur Kenntnis: Kultur ist zivilisationsrelevant!

„Berlin kann’s … später!“ Wäre vielleicht mal ein schöner Claim für die Hauptstadt. Denn nun ist nicht nur dieser – man will ja nicht wirklich schreiben „neue“ – Flughafen endlich vom Bauamt abgenommen und ein Eröffnungstermin steht tatsächlich bevor, sondern es haben sogar die Arbeiten an der Wippe begonnen. Also am Freiheits- und Einheitsdenkmal. Eigentlich nicht zu fassen. Wenn jetzt noch das Humboldtforum … aber wir wollen lieber nicht gleich übermütig werden.

Und schwupp, hat dieser kleine kulturpolitische Neuigkeitenanzeiger doch tatsächlich nicht mit Corona begonnen. Trotzdem ist das Thema bis auf Weiteres unvermeidlich. Unser gesamter Alltag – nicht nur der in Kultur und Medien, Wirtschaft und Wissenschaft – bleibt geprägt von den Auswirkungen des Virus. Dabei machen die Restriktionen des Hygiene- und Arbeitsschutzes einen auch nur annähernd „normalen“ Kulturbetrieb unmöglich. Wenn in Theatern und Konzertsälen mindestens jeder zweite Platz wg. Abstandsgebot freibleiben muss, kann in staatlichen und städtischen Häusern gerade so eben noch etwas stattfinden, weil öffentlich finanziert. Aber im privaten Sektor – von der Autorenlesung in der Buchhandlung über die Festivals aller Sparten bis zu Popkonzerten und Poetry Slam – ist an einen rentablen Veranstaltungsbetrieb nicht zu denken: Maximal ein Viertel, oft nur ein Sechstel der üblichen Platzkapazitäten sind durch die (vermutlich sinnvollen) Abstandsregeln machbar. Der Intendant des Rhein-Neckar-Theaters in Mannheim, Markus Beisel, zeigt in einem Video exemplarisch für die Branche auf, wie sein Saal bestenfalls bestuhlt sein könnte.

„Das reicht nicht aus!“

Das „Öffnungs“-Papier der Kulturminister-Konferenz von vor zwei Wochen konnte ihm wie allen betroffenen kaum Hoffnungen auf eine Trendwende machen. In einem Fachgespräch des Bundestags-Kulturausschusses schätzten Vertreter*innen der Theater- und Konzertbranche die Einnahmeverluste folgerichtig auf bis zu 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Eine heute veröffentlichte Umfrage von Deutschem Kulturrat und Kompetenzzentrum der Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes hat sogar ergeben, dass ein knappes Viertel der Fachverbände Umsatzeinbußen zwischen 90 und 100 Prozent erwartet. Müssen Künstler*innen künftig also wieder für lau arbeiten?

Die falsche Mär vom „Armen Poeten“, dessen Dasein sich doch bereits in der Kunst selbst erfülle, spukt schon viel zu lange durch die Köpfe der Deutschen; vor allem durch die deutscher Politiker*innen, die nicht verstehen können oder wollen, dass sie gar nicht auf den Schultern von ALDI, Siemens oder VW stehen, sondern auf denen der Kulturgigant*innen Droste und Schiller, Kraftwerk und Mutter, Arendt und Habermas. Deshalb hat Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat Recht, wenn er über die bisherigen Hilfen sagt: „Das reicht nicht aus!“ Nun plant die Bundesregierung offenkundig ein Konjunkturprogramm, das angeblich auch Umsatzausfälle in der Kultur kompensieren soll. Details erfahren wir hoffentlich in der kommenden Woche.

Kultur ist zivilisationsrelevant!

Dennoch ist die Kultur entgegen der trotzigen Behauptungen vieler Akteur*innen nicht „systemrelevant“ – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass hier alles zusammenbräche, wenn mal ein paar Wochen oder Monate oder gar ein Jahr kein Theater gespielt wird. Gleichzeitig sind „die Kultur“ als Ganzes und die Künste im Besonderen ein unverzichtbarer Antrieb menschlichen Fortschritts, also zivilisationsrelevant. Ohne die Gedanken, Werke und Inspirationen von Autorinnen und Malern, Regisseurinnen und Tänzern, Designerinnen und Musikern wären wir als Gesellschaft wie als Volkswirtschaft nämlich nicht da, wo wir sind. Zivilisation ist stets von Kultur(en) getrieben und getragen, nicht andersrum. Sie weist den Weg in die Zukunft und ebnet ihn durch ihre Werke und ihre Überzeugungskraft für alle. Und zwar nicht nur auf der großen Zeitachse der Epochen, sondern gerade auch im Kleinen: Kultur zivilisiert eine Gesellschaft im Alltag. Und wer möchte nicht in einer Welt leben, in der man Rücksicht aufeinander nimmt und anderen den Frieden und die Freiheit lässt, die man für sich selber reklamiert? Genau das bedeutet es nämlich, zivilisiert zu sein.

Wenn die Kultur aber eben das ist – zivilisationsrelevant –, dann stellt uns die Krise gerade einmal mehr vor die Frage, ob das eigentlich auch für alle gleichermaßen gilt. Die britische Kritikerin Lyn Gardner hat dazu in der aktuellen Ausgabe des Online-Magazins der Kulturstiftung des Bundes dezidiert die Haltung der Theater im Visier. Ihre Erkenntnisse sind klar und schonungslos bis über die Schmerzgrenze, vor allem für die Theatermacher*innen. Und wer den unseligen Krisen-Suaden so manches Intendanten bei Youtube gelauscht hat, der kann schon mal mit Gardner ins Zweifeln kommen, ob diese Typen wirklich in der selben Welt leben wie wir. Dass sie es trotz allem tun, macht es in vielerlei Hinsicht leider nicht besser. Möge die aktuelle Herausforderung also auch eine intellektuelle Inspiration für Kulturschaffende sein, ihre Zugänge und Zugänglichkeit, ihre Themen und ihre Theatralik zu hinterfragen. Hauptsache uns ereilt nicht, was die Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, Hortensia Völckers, neulich in einem Radiointerview befürchtete. Auf die Frage, welche Kunst die Krise wohl produziere, entfuhr ihr spontan der Satz: „Bitte keine Corona-Gedichte!“

… und sonst:

Empfehlung 1: Den besten Überblick über Hilfen, Regularien und (Schutz-)Verordnungen für die Kultur in Nordrhein-Westfalen bietet Soziokultur NRW

Empfehlung 2: Meine letzten Berichte und Sendungen:

Empfehlung 3: Zum Schluss noch ein entspannender Hörtipp zum Pfingstwochenende für alle Freunde hochwertiger, mitunter ungewöhnlicher Popmusik:
Miss Ingwer Rogers‘ und Charles Petersohns Music for Home Listening Vol.5 (funktioniert auch im Auto). Die ersten vier Ausgaben sind übrigens ebenfalls sehr gut!

Foto der coronagerechten Theaterbestuhlung: (c) Berliner Ensemble

Über derkulturpolitischereporter

Peter Grabowski ist der kulturpolitische reporter in NRW und drum herum
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Eine Antwort zu Zur Kenntnis: Kultur ist zivilisationsrelevant!

  1. orangsche schreibt:

    mal wieder bravo! Grüße Birgit

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