Die Kultur gilt in der Spätmoderne gemeinhin als Ersatz für die Religion. Vielleicht schien deshalb am Donnerstagabend so etwas wie weißer Rauch über den Dächern des deutschen Feuilletons aufzusteigen: „Wir haben eine neue …“ – nein, nicht Päpstin, sondern Kulturstaatsministerin. Claudia Roth von den Grünen soll es werden, und mit weit aufgerissenen Augen wurde im Netz und den Sozialen Medien gefragt: „Wieso denn ausgerechnet die?“
Man kennt das aus TV-Nachrichten oder XY ungelöst, wenn sichtlich schockierte Menschen vor beschaulichen Einfamilienhauskulissen stehen: „Ein ganz normales Mädchen war das, freundlich und zurückhaltend – und dann sowas! Schrecklich, die armen Eltern“. So klingt es immer, wenn das vermeintlich Unvorstellbare direkt um die Ecke passiert. Just diesen Punkt haben der brutale Mord und die große Politik gemeinsam: Die meisten Menschen kennen beides nur aus dem Fernsehen. Entsprechend überrascht waren viele über die Meldung, Claudia Roth werde die nächste Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Dass DIE Grüne Spitzenfrau der letzten drei Jahrzehnte nicht nur eine bunt gekleidete Krawallschachtel mit einer lauten Mission in Sachen Menschenrechte ist, hatten weite Teile der Bevölkerung wie auch des Kulturbetriebes offenbar lange übersehen.
Roths Bezug zur Kultur wird zudem gern auf eine weit zurückliegende Lebensphase reduziert: Als Managerin der legendären Band Ton Steine Scherben in den noch legendäreren Achtziger Jahren. Dass sie schon vorher – in Dortmund und Unna – als Theaterdramaturgin tätig war, steht zwar sogar in ihrem Wikipedia-Eintrag, spielte in der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Person bislang aber keine Rolle(sic!). Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, hat es als vermutlich Einziger aus dem Kreis der professionell dazu Berufenen geschafft, Claudia Roths Nominierung zu vermelden und zu würdigen, ohne ihre Scherben-Zeit zu erwähnen. Man sollte ihn mit einem Preis für die Vermeidung von Klischees und Erwartbarkeiten in der Publizistik ehren.
Roths Büro passt eher zu einer Galeristin
Einen realistischen Eindruck von Roths tatsächlicher Nähe zu Kunst und Kultur vermitteln die acht Minuten, die der – im Übrigen selbst oft unterschätzte – Kollege Jo Schück just im September für das ZDF-Kulturmagazin aspekte fabriziert hat. Darin lässt er sich von ihr die Kunstsammlung des Deutschen Bundestages zeigen und auch ihr eigenes Büro, das zur allgemeinen Überraschung eher dem Arbeitsplatz einer Galeristin ähnelt als dem einer Vizepräsidentin des höchsten deutschen Parlaments.
Die Leidenschaft teilt Roth mit ihrer nun bald Vorgängerin Monika Grütters. Wer mit der jemals in der Stiftung Brandenburger Tor, genauer gesagt im teilwiederaufgebauten Wohnhaus des Malers Max Liebermann am Pariser Platz unterwegs war, kann davon Lieder singen. Auch der Autor dieser Zeilen wurde vor einigen Jahren von Grütters durch das Gebäude geführt. Die studierte Kunstgeschichtlerin war mehr als anderthalb Jahrzehnte Vorständin der Stiftung und kann zu wirklich jedem der zahlreichen – und nicht selten von ihr selbst ausgesuchten – Bilder an den Wänden des Hauses was erzählen, ebenso interessant wie kenntnisreich.
Die mehr als nur flüchtige Ähnlichkeit der Lebensläufe und Persönlichkeiten von Roth und Grütters führt direkt zu einer der am weitesten verbreiteten Fehlannahmen über das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Denn es ist zwar sicher nicht hinderlich für den Job, über grundsätzliche Kenntnisse des Kulturlebens oder gar des Kunstbetriebes im engeren Sinne zu verfügen – für den tatsächlichen Erfolg oder das Scheitern der Amtsinhaber*in sind aber ganz andere Kompetenzen ausschlaggebend. Das erkennt man spätestens, wenn man den political turn ins Visier nimmt, den das Amt seit der Regierungsübernahme von Angela Merkel erlebt hat.
Auch Kulturpolitik ist Politik – es geht um Mehrheiten
Zur Erinnerung: 1998 von der rot-grünen Regierung und dem frisch gewählten SPD-Kanzler Gerhard Schröder geschaffen, gab es mit dem vormaligen Rowohlt-Verleger Michael Naumann, dem Münchner Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin sowie der promovierten Literaturwissenschaftlerin und Kunstkritikerin Christina Weiss zunächst drei eher im intellektuellen Milieu verortete Kulturstaatsminister. Die waren zwar nicht bedeutungslos, blieben aber – vor allem mangels Vernetzung ins Parlament – ohne größeren politischen Einfluss. Das änderte sich mit der Kanzlerinnenschaft Angela Merkels ab 2005 schlagartig. Die berief zum allgemeinen Entsetzen der Kulturszene den langjährigen Bremer CDU-Vorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Bernd Neumann in das Amt. Der tat in der Folge, was erfahrene und gut verdrahtete Politiker*innen üblicherweise so tun: Er organisierte zuverlässig innerparteiliche wie parlamentarische Mehrheiten für mehr Kompetenzen und Geld. In seiner Amtszeit wuchs der BKM-Etat um rund zehn Prozent erstmals merklich an, die von seiner Vorgängerin Weiss grundreformierte Filmförderung machte er zu seinem signature field. Nach zwei Legislaturperioden wurde Neumann 2014 Präsident der Filmförderungsanstalt (FFA); das Amt hat er bis heute inne.
Auch seine Nachfolgerin Monika Grütters hatte schon im Kulturausschuss des Bundestages gesessen und war als Landespolitikerin der Berliner CDU kontinuierlich in den engeren Machtzirkel der Hauptstadt hineingewachsen. An ihr lässt sich exemplarisch belegen, worauf es in diesem Job ankommt: Politische Erfahrung, Machtinstinkt, exzellente Vernetzung und ein direkter Draht zur Kanzlerin. Mit dieser Mischung hat Grütters den Etat der Bundeskulturförderung binnen acht Jahren um satte 60 Prozent auf heute mehr als zwei Milliarden Euro aufgestockt.
Grütters‘ kalkulierte Machtpolitik hat der Kultur in Deutschland viel gebracht
Vor allem aber hat sie den Bund in beinahe allen Diskursen und Entscheiderrunden als echtes Schwergewicht etabliert – mit ihr wurde „die BKM“ vom anfänglich ungeliebten Kind der deutschen Kulturpolitik zum Star der Familie. Das bleibt ihr Verdienst, auch wenn es manch berechtigte Kritik gibt. So wird es hoffentlich ein einmaliger Vorgang bleiben, dass eine faktische Staatssekretärin – zu allem Überfluss noch eine parlamentarische – Entscheidungen des Bundestages mit Gesetzeskraft ignoriert beziehungsweise bewusst unterläuft. Das Nationale Fotoinstitut, vom Parlament mit dem Haushaltsgesetz 2019 explizit am Standort Düsseldorf beschlossen, hat sie bislang erfolgreich verhindert; übrigens mit tatkräftiger Unterstützung einiger prominenter Kulturjournalist*innen, die wie Grütters selbst die Wahrheit in ihren Darstellungen der Vorgänge mindestens kräftig beugen. Wenn der Begriff nicht anderweitig besetzt wäre, müsste man dieses Vorgehen „außerparlamentarische Opposition“ nennen.
Mit Claudia Roth kommt nun eine langjährige Bundesparteivorsitzende und damit noch mal hoichrangiger erfahrene Politikerin ins Amt, das im kulturellen wie politischen Alltag „Kulturstaatsministerin“ heißt. Dieser Titel provoziert stets Missverständnisse, denn wie all ihre Vorgänger*innen wird auch Roth eben keine reguläre Ministerin mit Stimmrecht am Kabinettstisch sein (was Grütters‘ Leistungen umso bemerkenswerter macht). Deshalb steht sie auch keinem „richtigen“ Ministerium vor, sondern „nur“ einer Abteilung des Kanzleramtes, wenn auch mit fast 400 Mitarbeiter*innen.
Von Null auf 100: Die Pandemie erlaubt keine Schonfrist
Die üblichen 100 Tage Einarbeitung wird es für Roth allerdings nicht geben: Wieder muss die von der Pandemie schwer angeschlagene Kultur durch einen dunklen Winter gebracht werden. Grütters (CDU) war es mit den zwei NEUSTART-Milliarden gelungen, die einzigen(!) branchenspezifischen Coronahilfen des Bundes beim bisherigen Finanzminister Olaf Scholz (SPD) durchzusetzen. Eine Leistung, deren Tragweite den allermeisten Akteur*innen des Sektors nicht mal ansatzweise bewusst ist. Wird Roth Ähnliches zuwege bringen können? Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP sieht explizit die Fortführung der Hilfen vor. Größenordnung und Ausprägung jedoch sind offen und werden vermutlich die erste Bewährungsprobe des neuen Doppels im Kanzleramt. Der noch viele folgen werden, denn die sechs Seiten zur Kultur in der Vereinbarung der Ampelpartner strotzen vor ambitionierten Projekten: Von Mindestvergütungen für Künstler*innen und einem nationalen „Kulturplenum“ über eine zentrale Anlaufstelle „Green Culture“ und eine Bundesstiftung Industrielles Welterbe bis zu Dokumentations- und Erinnerungsorten für den Zweiten Weltkrieg und den Kolonialismus.
Doch es gibt auch Leerstellen: Das vereinbarte „Staatsziel Kultur im Grundgesetz“ wird sich im kulturpolitischen Alltag als wirkungslose Phrase erweisen (bei der Gelegenheit ein Hoch auf 20 Jahre Tierschutz im GG, mit Kastenhaltung Kükenschreddern). Zudem scheinen die Kultur und ihre Förderung für die Neukoalitionäre nur ein entweder gesellschafts-, wirtschafts- oder sozialpolitisches Projekt zu sein – zu künstlerischer Leistung, Innovation oder gar Exzellenz findet sich kein einziges Wort in dem Papier, das ja die Arbeitsgrundlage für die nächsten vier Jahre sein soll. Schließlich fehlt weiterhin das längst überfällige (Förder-)Konzept für die mittlerweile mehr als 40 deutschen Welterbestätten. Wenn das aber keine „Aufgabe von nationaler Bedeutung“ (das definiert die wenigen Zuständigkeiten des Bundes in der Kultur verfassungsrechtlich) ist, was dann?
Roth und Scholz: Kreativer Funke oder Brandgefahr?
Das entscheidende Kriterium für Roths eigenen und den kulturpolitischen Erfolg der Ampel insgesamt wird am Ende aber keine einzelne Sachfrage sein, sondern die persönliche Chemie: „Für eine erfolgreiche Kulturpolitik ist eine gute Zusammenarbeit zwischen Scholz und Roth essenziell“, sagte der Kulturrats-Geschäftsführer Olaf Zimmermann in seiner ersten Reaktion. Denn erstmals seit der Schaffung des Amtes 1998 wird die Kulturstaatsministerin ein anderes Parteibuch haben als der Regierungschef (Weiss war parteilos). Scholz hätte nur zu gern seinem langjährigen Hamburger Intimus Carsten Brosda den Job gegeben, aber die Koalitionsarithmetik und – dem Vernehmen nach – ein paar andere Faktoren bescherten dem bedächtigen Sozialdemokraten aus dem hohen Norden stattdessen das grüne Temperamentsbündel Claudia Roth aus Bayern. Ob diese brandheiße Liaison inspirative Funken sprüht oder eher für Feuer unterm Dach sorgt, werden die nächsten vier Jahre zeigen. Im Moment läuten jedenfalls noch die Jubel- und nicht die Alarm-Glocken: Habemus BKM!
… und sonst:
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- Nicht weniger als Alles: Der Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder fordert die „Neuerfindung der Kultur“
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- Wagner vor NS-Bauten? Nürnberg streitet um das Ausweichquartier während der Opernsanierung
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IN EIGENER SACHE: Am 19. November gab es auf der Art Cologne wieder ein Kölner Kunstversicherungsgespräch, das ich moderiert habe (ab Minute ’27). Nachzuschauen hier!
Foto Claudia Roth: (c) Kristian Schuller