Jahresende und -anfang, das ist die Zeit der Bilanzen. Dann werden jede Menge Statistiken veröffentlicht und es zeigt sich, wie viel Journalismus standardmäßig im Feuilleton steckt. Antwort: Geht so!
Die größte Freude bereitet dem kritischen Geist stets das jährliche Zahlenwerk des Staatlichen Instituts für Museumsforschung zu Berlin: Alle Jahre wieder kurz vor Weihnachten hauen die Erbsenzähler*innen rund um Chef-Museumsforscherin Monika Hagedorn-Saupe ihren Jahresbericht raus – und alle Jahre wieder fällt der seriöse Kulturjournalismus dem Umstand zum Opfer, dass man an humanistischen Gymnasien schon immer zu früh Mathe abwählen durfte.
Auch jüngst wurde wieder fröhlich vor sich hin fabuliert, als es darum ging, der geneigten Leser*innenschar den Bericht für 2017 zu vermitteln. „Die letzten Kathedralen“ überschrieb Catrin Lorch, ansonsten hoch geschätzte Kunstexpertin in der SZ-Redaktion, ihren Jubel-Artikel über die hiesige Museumslandschaft. Mehr als 6000 Häuser gebe es in Deutschland, und die seien von mehr als 114 Millionen Menschen besucht worden, begründete sie ihre Begeisterung. Die Zahlen würden sogar seit Jahren wachsen.
Wie viel ist 4831 von 6771? Genau!
Allein: Das ist mindestens unscharf, aber eher … falsch! Wir wissen tatsächlich gar nicht, wie viele Menschen in die exakt 6771 Museen gegangen sind, die das Institut für seine jüngste Erhebung über das Jahr 2017 angeschrieben hat. Es haben jedenfalls nur 4831 ihre Besucherzahlen gemeldet, das sind nicht mal drei Viertel aller Häuser. Diese recht wesentliche Information zur Einordnung des Datenmaterials findet sich nicht etwa versteckt in den Fußnoten des 106 Seiten dicken Jahresberichts, sondern bereits in der einleitenden Vorbemerkung des Institutsleiters Bernhard Graf – und zwar unmittelbar neben den von Lorch vermeldeten 114 Millionen.
Die bedeuten übrigens in der Tat einen Zuwachs von 2,2 Prozent im Vergleich zu 2016 – allerdings nur, wenn man nicht einrechnet, dass auch die Zahl der Museen, die ihre Besuche in Berlin angaben, gegenüber dem Vorjahr um 1,4 Prozent gestiegen ist. Zu allem Überfluss wurde mit diesen 114.375.732 Millionen Besuchen selbst das Niveau von 2015 noch nicht ganz wieder erreicht. Da waren es runde 50.000 mehr. Wohlgemerkt: Besuche – nicht Besucher bzw. Besucher*innen. Denn gezählt wird nur jeder einzelne Eintritt und nicht, welche konkrete Person ins Museum gekommen ist und wie oft sie oder er in diesem Jahr schon im gleichen oder auch einem anderen Haus war.
Besuche und Besucher: Augen auf beim Endungskauf
Mit anderen Worten: Wir wissen nicht, ob es sich bei den 114 Millionen vielleicht um den einmaligen Besuch aller Einwohner*innen der Bundesrepublik Deutschland handelt plus dem aller – ganz zufällig – ziemlich genau 35 Millionen Tourist*innen aus dem Ausland. Oder ist es vielleicht doch „nur“ ein jeweils harter Zehn-Prozent-Kern von Kunstinteressierten, also acht Millionen Einheimische und dreieinhalb Millionen Auswärtige, die aber jeweils zehnmal im Jahr im Museum waren?
Was wir dagegen genau wissen: Sogar die Zahl der gezählten MuseumsbesuchE nimmt bestenfalls zaghaft zu; sie pendelt schon länger zwischen 110 und 115 Millionen. Und da wir auch wissen, dass die vermehrten Angebote zu kostenlosem Eintritt vor allem mehr BesuchE bisheriger Museumsgänger zur Folge haben, ist die Zahl der BesuchER*INNEN – wie man sie als Unique Visitors aus der Statistik für Webseiten kennt – mit großer Wahrscheinlichkeit sogar (weiter) zurückgegangen. Von einem Boom in den „letzten Kathedralen“ kann also keinesfalls die Rede sein.
Cui bono? Der Glaubwürdigkeit jedenfalls nicht
Mit diesem groben Unfug ist die SZ natürlich nicht allein: Der Deutschlandfunk (da ging’s dieses Mal besonders hanebüchen zu mit einem grotesk falschen Sportvergleich) und die DPA seien hier nur exemplarisch ergänzt. Ähnliche Schwierigkeiten haben Kulturjournalisten mit dem Kulturfinanzbericht, den das Statistische Bundesamt alle zwei Jahre veröffentlicht. Dessen Kernaussagen beruhen stets auf drei Jahre alten Haushaltsdaten (wegen der langwierigen Schlussrechnungen der Haushalte) und sagen nichts über die gegenwärtige Situation. Zwar werden die jeweils aktuellen Etatansätze auch aufgeführt, aber erst in Kapitel 6. Da müsste man dann (Achtung: Ironie!) natürlich sehr aufwändig hinblättern oder -scrollen, um anschließend festzustellen, dass die feuilletonistische Lieblingsthese „An der Kultur wird immer zuerst gespart“ leider gar nicht stimmt – und das geht natürlich nicht.
Noch unseliger sind die jährlichen Zahlen zum Buchmarkt: Da blickt auch tatsächlich kaum jemand richtig durch, weil zum Beispiel die Bundesstatistiker Millionen Freiberufler und Selbstständige – also eine eher literaturaffine Zielgruppe, die zudem ständig größer wird – in ihren Erhebungen zum Konsum von Privathaushalten gar nicht mitzählen. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels wiederum ignoriert in seinen Bestandsaufnahmen die Werke vieler Tausend sogenannter Self Publisher, wie Bernd Graff neulich in einem weitgehend unbeachtet gebliebenen Artikel in der SZ erklärte (leider hinter der Paywall). Diese Autor*innen veröffentlichen auf den unterschiedlichsten Plattformen im Netz – und so manche*r stößt mit den Verkäufen durchaus in Bestsellerdimensionen vor.
Auch das könnte also Millionen vermeintlich verlorengegangener Buchkäufer erklären, die zuletzt lautstark beklagt wurden. Doch nur vereinzelt ist in der Berichterstattung jene Frage vernehmbar, die eigentlich zur Standardausrüstung des journalistischen Werkzeugkastens gehört: Cui bono – wem nützt es? (Hier: dass mit derlei zweifelhaften Zahlen und Interpretationen Stimmung gemacht wird.) Warum das wiederum kein Thema im Feuilleton Ihrer Tageszeitung, Kulturwelle oder in Ihrem Nachrichtenportal ist? Das könnte ja vielleicht mit dieser „Krise des Journalismus'“ zu tun haben, von der gerade wieder alle reden …
… und sonst:
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Terminhinweis 1: „Audience First?!“ Nächste Woche Mittwoch spreche ich im Düsseldorfer K20 mit der neuen Rautenstrauch-Joest-Direktorin Nanette Snoep, Diversitäts-Expertin Gülay Gün und marta-Chef Roland Nachtigäller über die Schlüsselfrage des künftigen Museumspublikums: Vielfalt
(läuft Anfang Februar auch bei WDR 3 im Radio)
Terminhinweis 2: „Konferenz Freie Szene“ des Rates der Künste Düsseldorf am 21. Januar ab 17.45 im Rathaus der Landeshauptstadt. Anmeldung: info@rat-der-kuenste.de
Terminhinweis 3: Die lang angekündigte und mehrfach verschobene Tagung „Die Galerie Stern im Kontext des Rheinischen Kunsthandels während des Nationalsozialismus“ findet nun endlich am 13. Februar statt – hoffentlich
Foto: (c) Peter Grabowski / der kulturpolitische reporter
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