Haubergswirtschaft und Schäferlauf, Drechslerhandwerk und Zoiglkultur – nein, das sind nicht etwa die „Kulturverluste des Jahres“, sondern vier von insgesamt 18 Neueintragungen in die Liste des Immateriellen Kulturerbes hierzulande. Die Deutsche UNESCO-Kommission hatte sie empfohlen, die Kultusministerkonferenz der Länder und die Beauftragte für Kultur und Medien der Bundesregierung, Monika Grütters, sind ihr darin gefolgt.
Das ist eine gute Nachricht, nicht nur für Traditionalisten und engagierte Denkmals- oder Handwerkspfleger, sondern vor allem für Tausende von Ehrenamtlern zwischen Passau und Flensburg (das dortige Zusammenleben der Minderheiten und Mehrheiten im deutsch-dänischen Grenzgebiet wurde übrigens zu einem von neun „Guten Praxisbeispielen“ der Erbeliste erklärt).
Keine gute Nachrichten für ein paar ähnliche Aktive in Nordrhein-Westfalen ist, dass die schwarz-gelben Koalitionäre im Düsseldorfer Landtag das Kulturerbe an Rhein, Ruhr und Lippe jetzt in ideologisch erwünscht und unerwünscht unterteilen. Es geht dabei um das „Archiv für alternatives Schrifttum“ (Afas) in Duisburg. Dort wird seit den 80er Jahren unter großem persönlichen Einsatz all das gesammelt, was die Alternative oder auch Gegen-Kultur der Bundesrepublik sowie die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen seit den 60er Jahren dokumentiert: Protestplakate und Protokolle, Flugblätter und Thesenpapiere, Aufkleber und Audiokassetten (Zur Geschichte Afas-Leiter Jürgen Bacia hier bei WDR3).
Institutionelle Förderung ad absurdum: Erst gewähren, dann entziehen
Das Afas war vor zwei Jahren in den Kreis der institutionell, also verlässlich dauerhaft geförderten Einrichtungen im Land aufgestiegen. Dafür hatten sich nicht nur die Kulturpolitiker der damaligen rot-grünen Koalition jahrelang eingesetzt, sondern auch ihr Pendant in der Union, Prof. Dr. Dr. Thomas Sternberg. Nach der Zusage der jährlichen 250.000 Euro hat das Archiv Mitte 2017 endlich den längst überfälligen Umzug in neue Räumlichkeiten vollzogen, die nun auch den konservatorischen Ansprüchen genügen. Der weltoffene und intellektuell vielseitige kulturpolitische Vordenker Sternberg sitzt seit der letzten Wahl nicht mehr im Landtag (er ist „nur“ noch Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken); seine Nachfolger wollen dem Afas die 250.000 220.000 Euro jetzt wieder streichen, obwohl Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen (parteilos) das Geld regulär im Haushalt 2019 eingeplant hatte.
Der Kulturetat des Landes wird bis 2023 um mindestens 100 Millionen Euro erhöht – finanzielle Zwänge können also kaum der Grund für die Totalkürzung sein. Eine substantielle Erklärung für die existenzgefährdende Attacke auf das Archiv blieben die kulturpolitischen Sprecher von Union und FDP bislang schuldig. Doch sie lieferten Hinweise: Der Klever CDU-Abgeordnete Günther Bergmann sagte in der November-Sitzung des Kulturausschusses, er selbst habe zum Beispiel noch manches Dokument aus der Streit-Zeit um die Atomkraft. Die würden sicher gut in die Sammlung des Afas passen, aber DA werde er sie bestimmt nicht hingeben – dann blieben sie besser bei ihm zuhause. Die Aggressivität in der Stimme und der spöttische Gesichtsausdruck vermittelten bereits eine Ahnung davon, dass es hier nicht um Sachfragen geht.
Eingliederung ins Landesarchiv? Nicht mit uns, sagt dessen Präsident
Dazu passt eine weitere Ungereimtheit: Bergmann brachte den Gedanken ins Spiel, dass die Bestände der Einrichtung auch im Landesarchiv NRW untergebracht werden könnten, das sich ebenfalls in Duisburg befindet. Dessen Chef lehnt die Idee allerdings strikt ab. Solche Archivalien zählten nicht zu den Aufgaben seines Hauses, sagte Landesarchiv-Präsident Frank Bischoff im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Außerdem würden die Afas-Leute gute und wichtige Arbeit leisten. „Es ist“, so Bischoff wörtlich, „mein Interesse, dass das Afas seine Arbeit fortsetzen kann“.
Diese Einschätzung des wichtigsten Fachmannes im Landesdienst hatte man in den Regierungsfraktionen offenbar vorher nicht eingeholt. Oder sie war einfach egal, weil es – siehe oben – eben gar nicht um die Sache geht. Lauter hätte die Ohrfeige jedenfalls kaum schallen können. Auch der Landesverband der Archivarinnnen und Archivare in NRW Verband deutscher Archivarinnen und Archivare protestierte gegen die Kürzungen; SPD und Grüne im Düsseldorfer Landtag sowieso, aber die sind halt in der Opposition.
Entfesselung als Freiheit von lästigen Begründungen
Vielleicht weist der Vorgang aber bloß darauf hin, was mancher Kulturpolitiker der Union unter jener „Entfesselung“ versteht, die sich CDU und FDP auf die Fahnen ihrer „NRW-Koalition“ geschrieben haben: Das Ende sachlicher Begründungen für die Kulturförderung und die Rückkehr zur Mittelvergabe nach Gusto, sprich: nach Gutsherrenart. Die Causa Afas jedenfalls offenbart ein fragwürdiges Verständnis von Pluralität – und lässt nichts Gutes erahnen für das geplante „Haus der Geschichte NRW“.
Auf dessen Einrichtung am prestigeträchtigen Düsseldorfer Rheinufer drängt die CDU ja gerade ebenfalls mit aller Macht. Offenbar wollen die überwiegend älteren weißen Herren nicht nur aus dem Parlament dort künftig ein Bild von Nordrhein-Westfalen vermitteln, das sie durch andere Perspektiven auf die Geschichte unseres Landes gefährdet sehen. Von einem auch nur annähernd zeitgemäßen „Kulturerbe“-Begriff ist das allerdings so weit entfernt wie Bielefeld von Bonn. Zu dem würden die Haubergswirtschaft und der Schäferlauf nämlich genauso gehören wie die Friedensbewegung und der Hambacher Forst. Man muss historische Tatsachen ja nicht gut finden – aber man muss sie überhaupt erst mal kennenlernen können, um sich anschließend ein Urteil darüber zu erlauben.
(Aktueller Nachtrag: Heute sollte die Kürzung im Parlament beschlossen werden. Gestern Abend haben die Regierungsfraktionen auf den letzten Drücker einen Änderungsantrag veröffentlicht, der nun die „letztmalige“ Gewährung des Zuschusses für 2019 vorsieht. Damit werde das Afas „in die Lage versetzt, die Planungen der kommenden Jahre so anzupassen, dass der Wegfall der freiwilligen Förderung des Landes kompensiert werden kann“. Diese Formulierung könnte auch vom einstigen Chefsatiriker des deutschen Fernsehens Harald Schmidt stammen; aus der Feder von Regierungspolitikern ist sie allerdings nur zynisch. Manchmal kann man gar nicht so rot werden, wie man sich fremdschämen muss!)
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Foto: (c) Afas „Fundstück des Monats“
Kleiner Fehler im Text: Nicht der Landesverband, sondern der Vorsitzende des Bundesverbands VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. hat den offenen Brief verfasst. In NRW gibt es (anders als in anderen Bundeländern) keinen eigenen Landesverband.
Danke, VdA, ist korrigiert!